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Montag, 16. April 2018

Überall Splitter: 60 Bauern betroffen


Nach Windrad-Havarie können Äcker seit Wochen nicht genutzt werden


 WV-Ausgabe v. 16.04.2018
Christian Althoff
Borchen(WB). Bei der Havarie eines Windrades am 8. März in Borchen (Kreis Paderborn) sind messerscharfe Glasfasersplitter bis zu 800 Meter weit geflogen. Etwa 60 Landwirte können ihre Äcker und Weiden deshalb seit Wochen nicht mehr bewirtschaften.
»Eine so großflächige Verunreinigung durch einen Windradunfall hat es, soweit ich weiß, in Deutschland noch nicht gegeben«, sagt Diplom-Ingenieur Dr. Gerhard Dumbeck von der Landwirtschaftskammer NRW. Auf Anweisung des Kreises Paderborn hat der Windradhersteller Enercon den Bodengutachter beauftragt, die landwirtschaftlichen Flächen zu untersuchen.
Sieben Windräder des Typs E-115 hat die Westfalenwind GmbH aus Lichtenau bei Enercon (Aurich) für den Windpark in Borchen bestellt.
Ein Gutachten zur Unfallursache liegt dem Kreis noch nicht vor. Enercon geht nach eigenen Angaben davon aus, dass bei der Montage durch einen Subunternehmer die Rotorblätter nicht mit der Kante im Wind standen, sondern mit der Fläche. Da die Bremstechnik noch nicht installiert gewesen sei, habe sich der Rotor gedreht – immer schneller, bis zwei der drei 55,9 Meter langen Flügel in einer Wolke aus Glas, Kunststoff und Füllmaterial zerfetzten. Beim Modell E-115 hatte Enercon erstmals Flügel aus zwei Teilen montiert. Es scheint, als seien sie an der Verbindungsstelle gebrochen und dann zur Spitze hin zerfasert. Einen Notfallplan für einen solchen Unfall gab es nicht.
Geschätzte 500 Meter entfernt betreibt Klaus Tschischke eine kleine Obstplantage. »Ich baue alte Sorten an. Äpfel, Birnen und Pflaumen.« Tschischke setzt auf Flächenkompostierung – der Kompost wird großflächig unter den Bäumen verteilt. »Dort finde ich seit Wochen weiße Plastikteile – große Bruchstücke und meterlange Fasern, aber auch viele fingernagelgroße Stücke. Die sind messerscharf. Ich kann nur noch mit Handschuhen arbeiten.«
Windradflügel bestehen aus feinen, flexiblen Glasfasern, die mit flüssigem Epoxidharz und Härter zu glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK) verarbeitet werden – ein Werkstoff, der nicht verrottet und sich mit herkömmlichen Methoden nicht recyceln lässt. Das Unternehmen Nehlsen in Bremen ist einer der wenigen Spezialisten für die Demontage und Entsorgung alter Windräder. Geschäftsführer Hans-Dieter Wilcken: »Wir zersägen die abgenommenen GFK-Flügel vor Ort auf einem Schutzvlies in vier Meter lange Segmente. Die werden dann bei uns im Betrieb geschreddert.« Die Teile gehen als Zuschlagstoff in die Zementherstellung: Bei mehr als 1000 Grad verbrennt das Harz, und das Glas wird Bestandteil des Zements.
Im Gegensatz zu der bis in die 90er Jahre hergestellten Glaswolle, mit der Dächer gedämmt wurden und deren winzige Fasern eingeatmet zu Lungenkrebs führen können, besteht diese Gefahr bei GFK-Fasern aufgrund ihrer Größe nicht. »Das ist kein Sondermüll«, sagt Hans-Dieter Wilcken. Auch spezielle Vorschriften zum Arbeitsschutz gebe es nicht.
In Borchen geht die Gefahr vielmehr von der Scharfkantigkeit der Teile aus. Dr. Martina Hoedemaker, Professorin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover: »Wenn Tiere die Teile beim Grasen aufnehmen, kann es schon in der Maulhöhle zu Verletzungen kommen.« Bei Rindern sei die Perforation eines Vormagens möglich. Bei Pferden sei der Magen zwar zu gut einem Drittel mit einer verhornten Schicht ausgekleidet. »In dem anderen Magenteil und im Darmtrakt könnte es aber Verletzungen geben.« Außerdem seien Klauen- und Hufverletzungen möglich, wenn Tiere in das GFK träten. »Erfahrungen dazu liegen uns aber nicht vor.«
Unklar ist außerdem, was passiert, wenn GFK-Fasern mit der Ernte eingefahren und weiterverarbeitet werden. Denn dass alle Splitter gefunden und aufgesammelt werden können – das behauptet niemand.
Enercon hat sich schriftlich bei den Bauern »für die Umweltverschmutzung« entschuldigt und erklärt, die Grundstücke »so sorgfältig wie möglich« zu reinigen. Damit wurde die Firma SD-Gartenbau aus Lichtenau beauftragt. Ihre Mitarbeiter versuchen, die GFK-Splitter mit Maschinen aufzusaugen. Sie sind aber auch zu Fuß unterwegs und sammeln Reste ein. Daniel Saage, Sprecher von Westfalenwind: »Wir machen Druck, damit die Landwirte bald wieder auf ihre Felder können.«
Ob auf dem Betonturm ein neuer Generator samt Windrad montiert werden kann, steht noch nicht fest. Der Kreis hat die Anlage stillgelegt und verlangt vom Bauherrn Westfalenwind nicht nur ein Bodengutachten und eine Expertise zur Unfallursache. »Wir haben auch ein Gutachten über die Statik von Fundament und Turm angefordert«, sagt Kreisbaudezernent Martin Hübner.
Um gegenüber Enercon gemeinsam Schadensersatzansprüche durchzusetzen, haben Landwirte inzwischen eine Interessengemeinschaft gegründet.

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