Ausgabe
des Westfälisches Volksblattes vom 09.12.2017 von Per Lütje
Borchen(WV).
So hoch her dürfte es im Kirchborchener Bürgerhaus nicht einmal beim Karneval
oder Schützenfest hergehen wie jetzt beim »WDR 5-Stadtgespräch«. Der
Radiosender hatte am Donnerstagabend zum Thema Windkraft zur Live-Debatte
geladen. Und ein Teilnehmer auf der Bühne zog ganz besonders die Empörung der
zumeist windkraftfeindlich eingestellten Zuhörer auf sich.
Es war kein
Zufall, dass sich die WDR-Redaktion ausgerechnet Borchen als Schauplatz
ausgesucht hatte. Denn in kaum einem anderen Ort, in dem sich bereits 40
Windkraftanlagen drehen und noch einmal so viele geplant sind, schlägt das
Thema so hohe Wellen. Entsprechend illuster war das Podium besetzt:
NRW-Wirtschaftsminister Prof. Andreas Pinkwart (FDP), Gudrun Ponta
(Bürgerinitiative Gegenwind Borchen), Unternehmer Johannes Lackmann
(Westfalen-Wind) und Bürgermeister Reiner Allerdissen (SPD).
Pinkwart,
seit Mai neuer Wirtschaftsminister in der schwarz-gelben Landesregierung,
machte deutlich, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien unter der
Vorgängerregierung eine ideologische Energiepolitik gewesen sei, die zu einem
Übermaß an Windkraftanlagen geführt habe. Seine Partei und auch die CDU, setzte
sich für eine Abstandsregelung von 1500 Metern ein, »doch bis dahin müssen wir
mit den vorhandenen Gesetzen leben«, sagte Pinkwart, der bis zur Umsetzung der
Novellierung die Windkraftinvestoren in die Pflicht nimmt, sich mit den Bürgern
vor Ort zu einigen.
Windkraftpionier
und Unternehmer Johannes Lackmann erntete ein ohrenbetäubendes
Trillerpfeifenkonzert für folgende Sätze: »Man kann doch die Energiewende nicht
davon abhängig machen, ob einzelne Bürger damit einverstanden sind. Im
Rheinland ist man so dumm, dass man sich die Landschaft unter dem Hintern
wegbaggert. Wir aber zerstören die Landschaft mit den Windkraftanlagen nicht.«
Sturm gegen die Aussage, dass Windkraftgegner nur eine Minderheit seien, lief
Bürgermeister Allerdissen: »Das ist nicht das Empfinden von einzelnen Menschen«,
betonte er. Als es um die Aufhebung des Ratsbeschlusses ging, die Klagen gegen
den Kreis Paderborn zurückzunehmen, hätten 2400 Bürger binnen zwei Tagen auf
entsprechenden Listen unterschrieben. »Das, was sie betreiben, ist
Manchester-Kapitalismus«, wetterte Allerdissen gegen Lackmann.
Gudrun
Ponta, die Mitbegründerin der Bürgerinitiative Gegenwind Borchen ist,
schilderte, dass sich im Umkreis von acht Kilometern um ihr Wohnhaus 300
Anlagen drehten. Als sie dort eingezogen sei, seien es nur ein Bruchteil davon
gewesen, die zudem nicht höher als 100 Meter gewesen seien. »Inzwischen habe
ich Schlafstörungen und leide unter Schmerzattacken. Seitdem ich ein
Schmerztagebuch führe, kann ich einen konkreten Zusammenhang zwischen meiner
Gesundheit und den Windkraftanlagen herstellen.«
Ein Zuhörer
aus dem Publikum hielt Unternehmer Lackmann vor, dass durch benachbarte
Windkraftanlagen Wohnhäuser in ihrem Wert gemindert würden. Dem widersprach
Lackmann und löste damit schallendes Gelächter und ein neuerliches Trillerpfeifenkonzert
aus: »Eine Entwertung von Häusern findet nicht statt.« Zur Seite sprang ihm
NRW-Minister Pinkwart: »Man kann einem Unternehmer nicht vorwerfen, den
gesetzlichen Rahmen auszuschöpfen und Geld zu verdienen.« Doch die Debatte
mache deutlich, dass es neue Regelungen brauche.
Borchens
Bürgermeister fasste die Gefühlslage der Bevölkerung abschließend so zusammen:
»Von 1000 Anlagen in ganz Ostwestfalen-Lippe drehen sich 500 im Kreis
Paderborn, so dass es eine ganz konkrete Betroffenheit der Menschen gibt. Die
Bürger fühlen sich ungerecht behandelt.«
Die Neue Westfälische schreibt dazu folgendes:
Hitzig: Beim WDR-Stadtgespräch zum Thema
"Energiewende trotz Bürgerprotest" war die Gemeindehalle Kirchborchen
gut besucht. Die
Diskussion auf dem prominent besetzten Podium
wurde von Pfiffen und Buhrufen der Einwohner begleitet, die sich von den vielen
Windmühlen regelrecht umzingelt fühlen
Von Nicole Hille-Priebe
Borchen. Für die einen wird die "schöne Paderborner
Hochfläche" mit Windrädern zugebaut, die anderen sind stolz darauf, dass
die Energiewende direkt
vor ihrer Haustür stattfindet - in diesem Gegensatz bewegte sich auch
die hitzige Diskussion beim "Stadtgespräch", zu dem WDR 5 am
Donnerstagabend in
die Gemeindehalle Kirchborchen eingeladen hatte.
Die Veranstaltung wurde ihrem Titel "Streit um die Windkraft:
Energiewende trotz Bürgerprotest?" mehr als gerecht, denn gestritten wurde
einen Großteil
der einstündigen Liveübertragung. "Warum findet die Energiewende
nur bei uns statt?", war eine der vielen Fragen aus dem Publikum, die an
diesem
Abend unbeantwortet bleiben sollten. "Warum wird so wenig
Rücksicht auf das Wohl der Menschen genommen?", fragte ein anderer Bürger.
DIE Protestbewegung
Als Gudrun Ponta (Bürgerinitiative Anti-Windkraft) vor sechs Jahren
nach Borchen zog, hätten dort nur alte - sprich: kleinere - Anlagen gestanden.
Und
nicht so viele. "Jetzt ist unser Haus eingekesselt, die Windräder
sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Da habe ich erst gemerkt, was hier
abgeht und
eine Bürgerinitiative gegründet. Ich versuche, unser letztes Stückchen Heimat
hier zu retten." Außerdem habe ihre Gesundheit so stark gelitten, dass sie
wegen chronischer Kopfschmerzen mittlerweile ein Schmerztagebuch führe.
Besonders ärgert Ponta der Verfahrensweg: "Im Rat dürfen Leute abstimmen,
die unter dem starken Verdacht stehen, von der Windkraft finanziell zu
profitieren. Sogar in Rumänien gibt es eine Anti-Korruptionsbehörde - aber in
Deutschland gibt es so was nicht."
DER INVESTOR
Zwischen Pfiffen und Buhrufen machte der "Windpionier"
Johannes Lackmann (Westfalenwind) deutlich, dass er an diesem Abend keine
Freunde sucht.
"Wir nehmen die Kritik zur Kenntnis, aber Widerstand gibt es bei
allen großen Infrastrukturmaßnahmen. Was die Windkraft angeht, hat die Politik
etwas
beschlossen und wir setzen es um. Die Frage, was zu viel ist, kann
nicht damit beantwortet werden, ob jemand das schön findet." Obwohl sein
kompromissloses Auftreten, bei dem er Bürgermeister Reiner Allerdissen
unter anderem als "kleinen König" und die Gemeinde als
"bockig" bezeichnete,
eine andere Sprache sprach, betonte er am Ende, er habe sich
"immer redlich bemüht" - es könne aber nicht sein, "dass die
Energiewende nicht
stattfindet, weil eine
Minderheit dagegen ist".
Der MINISTER
Andreas Pinkwart (FDP) ist als NRW-Wirtschaftsminister auf den ersten
Blick nicht verdächtig, eine investorenfeindliche Politik zu bestreiten. Wenn
es um
erneuerbare Energien geht, hat in Düsseldorf jedoch offenbar ein
Umdenken stattgefunden, besonders bei der Windkraft: "Ich kann die Kritik
verstehen
und teilen. Die Energiepolitik der letzten Jahre baute auf dem auf, was
die Politik vorgegeben hat, das muss man Herrn Lackmann zugute halten. In
gewissen Regionen wie hier vor Ort wurde das jedoch einfach überzogen.
Jetzt müssen wir das für Mensch und Natur wieder verträglich machen."
Pinkwart
verwies auf den neuen Windenergie-Erlass, den sein Ministerium auf den
Weg gebracht habe. Er sehe dringenden Handlungsbedarf, den Mix der
erneuerbaren Energien auf den Prüfstand zu stellen - "stattdessen
wird jedoch immer weiter ausgebaut, so dass die Netze verstopfen."
DER BÜRGERMEISTER
Reiner Allerdissen (SPD) darf nicht müde werden, gegen Windräder zu
kämpfen - schließlich stehen bereits überproportional viele davon in seiner
Gemeinde. Von rund 1.000 Anlagen in OWL wurden 500 im Kreis Paderborn
gebaut, 40 von ihnen stehen in Borchen. 40 weitere sollen hinzukommen.
"Das
ist nicht mehr normal, was hier passiert. Die Menschen fühlen sich
alleine gelassen." Dass zwischen Allerdissen und Lackmann Eiszeit
herrscht, war nicht
zu übersehen. Der Bürgermeister fühlt sich von dem Investor über den
Tisch gezogen. "Er hat eine Lücke im Genehmigungsverfahren ausgenutzt und
Ratsmitglieder unter Druck gesetzt. Das gibt ihm jetzt die Chance,
überall zu bauen. Dieses Rennen können wir nicht gewinnen."
DIE BÜRGER
Sie kamen in der Diskussion ein wenig zu kurz. "Die
Ewigkeitsschäden wurden heute Abend noch gar nicht angesprochen", sagte
eine Anwohnerin. Die
Windkraftanlagen seien nicht nur eine Katastrophe für die Vögel,
sondern auch für die Bodenwirtschaft. "Es ist ein Unding, was wir uns hier
antun." Ein
anderer Bürger sagte: "Herr Lackmann, Ihr Strom ist mal da und mal
nicht. Die Grundlast wird dadurch getragen, dass im Rheinland weiterhin
Braunkohle
abgebaut wird - das ist eine
Wiederholung des mittelalterlichen Ablasshandels."
Siehe auch Kommentar Kennzeichen PB, 2 Lokalseite
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15 - Paderborn (Kreis), Samstag
09. Dezember 2017
Lokales
Kommentar von Nicole Hille-Priebe
Wer nicht dafür ist, ist dagegen
Dass die Emotionen beim Thema Windkraft hoch schlagen, ist bekannt. Wie
aufgeheizt die Stimmung vor Ort aber mittlerweile ist, konnte man beim
Stadtgespräch erleben, zu dem der WDR in die Gemeindehalle nach
Kirchborchen eingeladen hatte - dorthin also, wo es gerade besonders brodelt.
Im Prinzip verläuft die Diskussion stets ähnlich: Wer nicht für die
Windkraft ist, ist dagegen; und damit auch gegen den Fortschritt, gegen die
Energiewende, für Braunkohle und Atomkraftwerke. Es wird polarisiert,
was das Zeug hält, anstatt mit Verständnis und Toleranz den Dialog zu suchen.
Im
Eifer des Gefechts wird häufig vergessen: Gegen Windkraft sind die
wenigsten - warum sollte man auch? - gegen Windkraftanlagen vor der Haustür
jedoch
viele.
Wie kann man den Borchener Bürgern schmackhaft machen, dass sie
praktisch keinen längeren Spaziergang in der Natur machen können, ohne auf ein
Windrad zu treffen? Dass bei ihnen, obwohl sie bereits 40 Anlagen in
der Gemeinde haben, noch einmal so viele gebaut werden sollen? Dass ihre
Gesundheit nicht so wichtig ist wie der Profit der Investoren? Man kann
es nicht. Zumal die Betroffenen längst ahnen, dass die steigende Zahl der immer
größer werdenden Windrädern weniger mit ökologischen als mit
ökonomischen Interessen zu tun hat.
Es war also klar, dass der Windenergie-"Pionier" Johannes
Lackmann an diesem Abend keinen leichten Stand haben würde. Mit seinem
Auftritt, seinen
Argumenten und seiner Wortwahl hat er sich jedoch keinen Gefallen
getan. Wer einen Bürgermeister, dessen Gemeinde mit 40 bestehenden Anlagen
leben
und sich gegen weitere 40 Windräder in Planung wehren muss, als
"kleinen König, der keine Windräder will" bezeichnet und die Bürger
als "bockig", sucht
nicht Frieden, sondern provoziert. Besonders pikant sind die Borchener
Verhältnisse, unter denen es überhaupt zu dieser Situation kommen konnte. Ein
Formfehler bei der Neuaufstellung des Flächennutzungsplans öffnete
Lackmann die Tür, sagt der Bürgermeister. Und was man an diesem Abend sonst
noch
über die Vorgänge vernehmen konnte, erinnert eher an Drückermethoden
als an ostwestfälische Bodenständigkeit.
Borchen ist jedoch nicht allein, in vielen Gemeinden bilden sich
Bürgerinitiativen, regt sich der Widerstand. Die Menschen wollen sich ihr Leben
und ihre
Heimat nicht länger von Bauwerken zerstören lassen, an deren
Sinnhaftigkeit sie nicht mehr glauben können. Bleibt die spannende Frage, wie
es im Kreis
Paderborn ganz konkret weitergeht mit den Genehmigungsverfahren für
geplante Windkraftanlagen - schließlich soll die Windenergie-Novelle des
Wirtschaftsministeriums ab 2018 zu einschneidenden Veränderungen und
einem stärkeren Schutz von Mensch und Natur führen.
Aus dem Münsterland ist zu hören, dass man in einzelnen
Windkraftgemeinden nicht auf das neue Gesetz warten will - sondern lieber noch
schnell ein paar Projekte durchzieht.